Die neugierige Geschichte
Ein Mann, der selbst sehr neugierig war, hatte eine neugierige Frau. Das war nicht weiter schlimm, nur in der Weihnachtszeit fielen sie sich damit gegenseitig auf die Nerven. Sie hatten eine kleine Wohnung: Ein Zimmer, die Küche, die Dusche und dazu eine winzige Diele; da war nicht viel Platz, um voreinander Weihnachtsgeschenke zu verstecken.
Jeder wusste vom anderen, dass er vor Neugierde fast platzte und schon vorher versuchte, das Geschenk zu finden. Einmal, als der Mann von der Arbeit kam, ertappte er seine Frau, wie sie alle seine Anzüge aus dem Schrank geräumt und seine Hemden aus der Schublade gezogen hatte.
“Ach”, sagte sie und bekam ein rotes Gesicht, ”ich wollte nur etwas Ordnung schaffen”, und sie stopfte alles wieder in den Schrank und die Schublade. Aber der Mann wusste, dass sie sein Weihnachtsgeschenk gesucht hatte.
Als die Frau vom Einkaufen nach Hause kam, fand sie ihren Mann unter den Betten. “Ich wollte ein wenig saubermachen”, sagte er und bekam rote Ohren. “Mit den Händen?” fragte die Frau. Sie wußte, daß er nur gesucht hatte, wo sie ihr Geschenk versteckt hatte. Sie führten keine anderen Gespräche mehr als: “Was schenkst du mir? Bitte, verrate es, ich platze fast!” “Was kriege ich von dir? Sag es mir, oder ich komme um!”
So gern sie gewußt hätten, was sie geschenkt bekamen, so wenig verrieten sie, was sie schenkten, und so große Mühe gaben sie sich in der kleinen Wohnung ein Versteck zu finden, das der andere nicht vorzeitig entdeckte.
Als der Heilige Abend endlich gekommen war, konnten sie es schon am frühen Morgen nicht mehr aushalten. Die Frau sagte, sie sollten doch jetzt schon bescheren, schließlich sei den ganzen Tag Weihnachten. Das war dem Mann nur recht, auch er sah nicht ein, warum sie bis zum Abend warten sollten. Sie standen also auf, um die Geschenke zu holen. Der Mann ging ins Zimmer, die Frau lief in die Küche. In der Diele rannten sie sich fast um, denn die Frau wollte ins Zimmer und der Mann in die Dusche. Dann stießen sie gegeneinander, weil der Mann in die Küche lief und die Frau auch. Sie liefen hin und her und riefen sich nur manchmal zu: “Gleich ist es soweit!” Aber es dauerte sehr lange: Sie hatten die Geschenke so gut versteckt, dass sie sie nun selbst nicht mehr fanden.
Der Mann rückte den Schrank von der Wand ab, die Frau hob die Matratzen aus dem Bettgestell. Er schraubte die Lampe ab; sie rollte den Teppich auf. Er montierte die Rückwand vom Radio ab; sie sah oben auf der Gardinenleiste nach.
“Ich finde es nicht mehr”, rief sie endlich. “Such weiter, ich bin so neugierig darauf”, sagte der Mann und steckte seinen Kopf in die Backröhre. “Wie ich auf deines”, antwortete die Frau. “Wo hast du es?” “Wenn du nicht immer danach gesucht hättest, hätte ich es nicht so gut versteckt!” , rief der Mann, “du bist schuld!” “Und du bist schuld, dass ich mein Geschenk nicht mehr finde!” entgegnete sie.
Aber weil Weihnachten war, wollten sie sich nicht zanken. Sie suchten lieber gemeinsam weiter. Schließlich waren die Schränke ausgeräumt, alle Kannen und Töpfe umgestülpt, in den Mänteln die Taschen nach außen gewendet und die Bilder von der Wand genommen. Sie hatten überall dreimal nachgesehen und sie hatten nichts gefunden.
„Dann sag mir wenigstens, was es ist“, meinte die Frau. Aber das wollte der Mann nicht: “Es ist dann keine Überraschung mehr.” „Sag mir, wie es aussieht!“, drängelte sie. „Klein, groß, spitz oder rund?“ „Klein“, sagte der Mann. “Und dein Geschenk?” “Spitz”, sagte die Frau.
Es wurde Abend. Die Wohnung war vollkommen durcheinander. Sie wollten Licht machen, da waren die Birnen herausgeschraubt. Sie wollten Essen machen und fanden die Teller nicht mehr. Sie wollten schlafen gehen und mussten die Kissen suchen.
“Ich kann nicht mehr”, rief der Mann und ließ sich in den Sessel fallen. Aber weil der mit den Beinen nach oben stand, fuhr er sogleich wieder hoch. Er drehte ihn herum und zerstach sich dabei die Hand, denn er fasste an etwas Spitzes, das in der Polsterung steckte.
“Au”, rief er und zog das Taschentuch aus der Hosentasche, um es sich um den Finger zu wickeln. Dabei rollte etwas ganz Kleines auf den Boden.
Ob sie die Geschenke noch gefunden haben? Wer weiß!
Und was es war? Das geht nur die beiden an – wer wird denn so neugierig sein!